Gegenwelten von astronomischen Dimensionen: Der Mensch ist 100.000 Jahre, die Spinne 4000 (!) mal so alt. Sie war eine der ersten Lebewesen, die aus den Meeren krochen, der Wiege unserer Existenz, hat alle Erdkatastrophen überlebt, könnte Homo sapiens eben so lange, 400 Millionen Jahre überleben.
Wir „Schattenmenschen“
Die vermeintliche Krone der Schöpfung ist ein fast unsichtbarer Schatten im Dasein der von uns so verachteteten, zumindest ignorierten Achtbeiner. Hier die historische Korrektur aus der Arachnologie, Spinnenwissenschaft, Werk des Wissenschaftsjournalisten Jan Mohnhaupt, auch fachlicher Insider, jahrzehntelang Halter einer Vogelspinne und intimer Beobachter seines Haustieres.
„Von Spinnen und Menschen“ ist ein spannendes Buch, mit tiefen Einblicken in diese uns so fremde Spinnenwelt, bei dessen Lektüre es kribbelt, weiterzulesen. Dies schaffen nur wenige Wissenschaftsbücher.
Das Format ist kompakt, die Schriftgröße angenehm, die Grafik abwechslungsreich, ein Fünftel des 250 Seiten umfassenden Werkes ist dem Anhang mit reichlich wissenschaftlichen Quellen gewidmet. Letztlich ist das Schriftwerk ein feiner Balanceakt zwischen Unterhaltung und forscherischer Fundierung.
Spinnenfrauen und Vamps
Allerdings stellenweise sich in Schleifen wiederholend, was ein aufmerksames Lektorat hätte kürzen können, um das Buch noch lesbarer zu machen. Dafür hat der Rezensent keine Rechtschreibdreher gefunden, eine heutige Seltenheit, dafür aber wird der so unkritische Sprachgebrauch „amerikanisch“ übernommen, wenn „US-amerikanisch“ gemeint ist (S. 64): eine mehr als unschöne, unausrottbare Schreib- und Sprachsitte?
Es war offenbar die katholische Kirche, die die Spinne zum Untier erhob und damit auch gleich die zur Spinne degradierte „unmoralische“ Frau. Dieser Vorwurf an die abendländischen Autoritäten ist berechtigt, so wie auch anhand der Quellen belegt, wirkt aber infolge der Wiederholungen in verschiedenen Buchteilen redundant, wirkt nörgelig. Der kulturelle Ausflug in der Darstellung der Frau als Spinne, Vamp, Männermörderin auf den Bühnen der Welt dagegen ist fokussierter, nimmt mit, überzeugt.
Auffällig wird, dass eigentlich nur unser Kulturkreis derart über Kreuz liegt mit diesem uns so unbekannten Wesen. Bei einigen Kulturvölkern wird es, anders, sogar als spirituell verehrt, Schöpferin, gottesgleich, Inbegriff des Kosmos und gilt, in Asien inklusive Türkei bis heute als gutes Omen. Zurecht.
Kitesurfer der Meere
Das Wunder der Spinnenseide ist immer noch viel zu wenig erforscht und könnte eines Tages als organisches Material und Organersatz fungieren. In einigen Ländern werden Spinnennetze sogar zum Fischen benutzt. Bemerkenswert wie 5000 Fäden sich zu einer speziellen Violinseite vereinigen. Unbestritten dass viele Völker der Welt Spinnen die Inspiration zum Weben und Textilherstellung verdanken. Ihre Netze funktionieren auch als Segel, mit der Spinnen als quasi „Kitesurfer“ über die Weltmeere zogen und den Erdball eroberten.
Wenn 90 Prozent der Deutschen eine Phobie vor diesen wundersamen Wesen haben, dann hat das bestimmt auch mit der historischen Verunglimpfung zu tun. Mittlerweile gibt es gegen diese Angst eine sehr erfolgreiche virtuelle Exposition. Die Abscheu ist tief in uns verwurzelt, wenn selbst angesehene mittelalterliche Wissenschaftler den Glauben verbreiteten, das Spinnen aus Auswurf und Menstruationsblut entstünden, im Schulterschluss mit dem Volksglauben und Kirchenfürsten, dass sie Ausdruck des Teufels seien.
Opfer-Sex
Die Heilige Kirche und objektive Forschung finden sich in bester Gesellschaft mit den Ideologen. Alle nur denkbaren Heilslehren haben die Spinne zur Herabwürdigung anderer Menschen missbraucht, etwa Hitler und seine Schergen sie für den Judenhass eingespannt.
Diese hermetische Front der Verbannung als Untier hat ursächlich auch damit zu tun, dass einige Spinnen ihre Gatten nach dem Sex auffressen. Das hat aber für die Opfer auch genetische Vorteile, verrät der Autor. Außerdem sind Spinnenfrauen aufopfernde Mütter, die für ihre Kinder und deren Überleben notfalls sterben.
Ein letzter Fehlglaube: Wenige Spinnen sind giftig und die giftigen sind harmloser als manche Wespen. Mit ihren Netzen filtern sie die Insekten aus unserer Welt, die ohne Spinnen Überhand nähmen und uns erstickten, weiß der Autor. Das wäre in Zeiten des großen Insektensterbens erläuterungswürdig.
52.000 Arten
Die Spinnenforschung steht noch ganz am Anfang. Heute sind 52.000 Arten bekannt, nach Aussage des Autors sind das gerade erst magere zehn Prozent. Hier hätte man sich statt der vielen Erzählerchen noch mehr Tiefgang gewünscht, Stammbäume, Namen, Lebenszonen: Faktisches.
Jan Mohnhaupt: Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung. Hanser 2024
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