Ein eher antiquierter Begriff erlebt eine Renaissance: Gemeinsinn. Die Konflikte und Polarisierung unserer Tage haben ihm zu neuer Frische und Hoffnung verholfen. Er hat eine Geschichte von mindestens 2500 Jahren auf dem Buckel, stammt aus der altgriechischen Philosophie und erfuhr im Verlaufe der europäischen Kulturgeschichte etliche Neuauflagen und Interpretationen. Grundsätzlich ist das Wort so etwas wie eine Gebärmutter für Demokratie, wie auch immer man sie auslegen möchte, zwischen der BRD-sozialmarktwirtschaftlichen, US-kapitalistischen, auch DDR-sozialistischen. Die Bandbreite ist so breit wie das Farbspektrum. Diese Vieldeutigkeit und chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit erschwert die Greifbarkeit.
Zentral: Kants Kategorischer Imperativ
Das Forscherehepaar Aleida Assmann und Jan Assmann (der leider die Veröffentlichung dieses Buches nicht mehr erlebte) hat sich in Gemeinsinn: Der sechste, soziale Sinn kongenial auf Spurensuche durch die abendländische Kultur-, Philosophie- und Politikgeschichte gemacht. Als Erfinder gilt Aristoteles, gleichwohl die meist autokratischen Herrscher in der 10.000 jährigen Zivilisationsgeschichte zu ihrer Legitimierung sich oft auf das Gemeinwohl und Gemeinsinniges beriefen, so die Pharaonenreiche. Zu einem neuen Spin verhalf das Christentum dem Gemeinsinn, indem es das tief verwurzelte Freund-Feinddenken, das alttestamentarische “Aug und Aug, Zahn um Zahn” überwand und in der Bergpredigt verkündet: “Liebt eure Feinde.” Was Kant mit seinem kategorischen Imperativ in eine allgemeine Ethik kleidete, die bis heute in allen Kulturen als goldene Regel gelten darf: Andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.
Das Autorenpaar kreist in seiner Suche um die großen Denker wie Nietzsche, Weber, Habermas, viele andere, bleibt aber letztlich in der Allgemeinheit des Gemeinsinns stecken. Die Nazis haben ihn für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft, das “Völkische” ebenso funktionalisiert wie SED-Funktionäre für die Vergesellschaftung von Produktionsmittel und Landwirtschaft. Sogar US-Präsident Trump und seine Propagandisten appellieren mit MAGA, “Make America Great Again”, an den Gemeinsinn des US-amerikanischen Volkes.
Gegenspieler Rechtsnationalismus und Individualismus
Insofern, so edel der Begriff auch ist, er ist ein Passepartout, der “durch alles hindurchgeht”, so die Definition, der für alles passende Schüssel. Er mag als ein Mitgefühl und Empathie im Menschen zwar genetisch angelegt sein, sogar anthropologisch in einer Art Herdentrieb, wird aber immer wieder schachmatt gesetzt durch aller sozialen Kontrolle sich entziehen wollenden Führerfiguren, von Autokraten bis Tyrannen. Im rhythmischen Kommen und Gehen. Insofern obsiegt, zumindest periodisch, immer wieder der Gemeinsinn im klassischen Sinne, müsste die gute Nachricht lauten.
Die offene Frage bleibt, auch im Buch, ob der seit Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren praktizierte Universalismus und Kosmopolitismus, Inklusion und Diversität als Ausdruck von Gemeinsinn dauerhaft ist. Diese Werte stehen unter zunehmend rechtsnationalem Druck und werden als “wokeness” bekämpft. Eine weitere angeschnittene, aber am Ende unbeantwortete Frage ist, ob der in der westlichen Kultur gepflegte Individualismus mit all seinen Tendenzen zur Ich-Bezogenenheit und Egozentrik, vorgelebt auch von Politikern auf höchster Ebene, nicht ein Gegenspieler, eventuell sogar Totengräber des Gemeinsinns ist.
Konfuzianismus: Welche Art von Gemeinsinn ist das?
Trotz der Aktualität hat das Buch keinen Bestseller-Appeal. Es ist in Rahmung und Duktus ein eher politikwissenschaftliches, trotz seiner Komplexität inhaltlich und stilistisch aber gut fassbar und schnell rezipierbar, auch ehrlich in der Aussage.
Sein Best Practice Teil enthält viele erfolgreiche Gemeinsinn-Modelle, von der Tafel bis zur Willkommenskultur, die allerdings wenig über das darüber Bekannte hinausführen. Darunter ist aber ein Beispiel, das neugierig macht. Warum Japaner in den Fußballstadien der WM 2022 in Qatar nicht nur ihre eigenen Abfälle, sondern auch die der Mitbesucher grenzübergreifend-gemeinsinnig entsorgten. Zumindest an dieser Stelle hätte man sich die Brücke zu Japan, China und den anderen asiatischen Kulturen gewünscht, wie diese Gemeinsinn verstehen und welche Traditionen und Philosophien hier ihre Spuren hinterlassen haben. Und ob der auf Harmonie und Gemeinsamkeit bedachte Konfuzianismus dem Kern des Gemeinsinns womöglich nicht näher kommt als der europäische? Insofern ist der Ansatz des Buches ein eher limitierend-eurozentrischer.
Elementar: der Kooperationswille
Ausführlich verweisen die Autoren auf ein anderes umfassendes Werk, welches sich ihrem Thema widmet, allerdings nicht primär unter Gemeinsinn, sondern im Titel mit dem schärferen Zusammen. Der Journalist Ulrich Schnabel beschreibt darin eher populärwissenschaftlich das Menschlich-Kooperative in seinen vielen Dimensionen als Mittel der Krisenbewältigung im 21. Jahrhundert, basiert auf Erkenntnissen der Sozialpsychologie, Ökologie, Ökonomie. Das bereits 2022 erschienene Buch, welches auch häufig in den großen Leitmedien aufgegriffen worden ist, ist eine wertvolle Ergänzung zu Gemeinsinn. Der Sechste, soziale Sinn.
Rezensenten gehen bei aller Würdigung der Autoren für deren Schreibwerk nicht nur kritisch mit ihren Inhalten um, sondern machen auch auf Fehler aufmerksam. Die wenigsten Leser werden auf diesen Fauxpas stoßen. Aber das wertgeschätzte Schnabel-Buch fehlt im Literaturverzeichnis, was sich leicht in der dritten Auflage beheben ließe.
Aleida Assmann, Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn. C.H. Beck 2025, 2. Auflage