470 Seiten Suche nach einer Brücke: die das Ich und Wir zusammenhält. Die Antwort am Ende nach 61 Kapiteln durch viele Bereiche des öffentlichen Lebens bleibt bescheiden: ein Plädoyer für das „sorgende Ich“.
Ein Gentleman
In seinem 27. Buch in fast vier Jahrzehnten sorgt sich der öffentliche Philosoph Wilhelm Schmid (wie Schmied ausgesprochen) um des Pudels Kern unserer Gesellschaft: Was sie bei all dem alarmierenden Auseinanderdriften zusammenhält. Der Berliner ist ein Mann des großen Intellekts, ein gesuchter Gast in den Medien und öffentlichen Events, darunter im Münchner Literaturhaus.
Seine Hörerschaft folgt ihm gerne, ebenso seine Leserschaft in Die Suche nach Zusammenhalt, das größtenteils frisch aus dem Leben geschöpft ist, mit vielen reportage-igen Einflechtungen, erkenntnisreich wie etwa über das kulturelle Karussell bei der Erfindung des Cappuccino (wobei offensichtlich österreichische Soldaten, nicht die zitierten deutschen Urlauber den Anstoß dazu gaben) – gespickt nur ab und zu mit ein paar Fachausdrücken.
Schmid ist ein ausgewiesener Gentleman, der sich stets um Toleranz und Verständnis bemüht, der die Hand zu den vielen anderen in der Gesellschaft ausstreckt, die wenig gesehenen Handwerker und Dienstleister hochleben lässt, er sich ehrenamtlich engagiert, zeitweise pro bono für das Gemeinwohl und die Verständigung arbeitet, immer freundliche Worte findet, mit selbigen notfalls eine Diskussion mit einem Klimaleugner abbricht.
Staats- und wissenschaftsgläubig?
Aber kommen wir damit wirklich der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft näher? Könnte es sein, dass der Autor manchmal einen Tuck zu staats- und wissenschaftsgläubig an sein großes Thema herangeht?
Seine verständnisvolle Sicht auf die Coronapolitik ist holzschnittartig, wenn heute nach fünf Jahren sich doch so viele Stimmen erheben, die die Lockdownpraxis für übertrieben einstufen und die vielen Mental Health Probleme besonders auch der Jüngeren u.a. hierauf zurückführen.
Die Erklärung über die Wahrheitssuche der Wissenschaft erinnert ein wenig an einen propädeutischen Einführungskurs. Keine Rede über die großen Egos von Forschern, ihren Seilschaften, Manipulationen und Schönrechnen von Ergebnissen – sollten Bürgerinnen und Bürger auch für eine Zusammenführung von Ich und Wir nicht viel mehr an Wissenschaft beteiligt werden, so wie es die EU-Forschungsprogramme vorsehen?
Wokeism, mehr als ein Schlagwort
Aber der offensichtlich konsequente Nutzer der Öffis kann auch kritisch, sogar mit einer polemischen Grundierung, wenn er etwa über die Ideologie des Automobilismus schreibt. Wenn wir wirklich etwas fürs Klima tun wollten, müsste dieser nicht gestoppt werden? Stattdessen fahren neben dem in Städten kaum mehr nutzbaren Auto immer mehr ein E-Bike und besitzen zusätzlich auch ein Deutschlandticket, während die Bahn und der Verkehr insgesamt immer mehr auf Verschleiß fährt. Dürfte, ja müsste man da nicht manchmal schon ein wenig zynisch werden und an den demokratischen Regularien zweifeln?
Sehr spannend wäre gewesen, wie er die ersten hundert Tage von Trump als #47 im Weißen Haus bewertet hätte, wenn sich das nicht mit dem Bucherscheinungsdatum überschnitten hätte. Der amtierende Präsident der USA, stets demokratisches Vorbild Europas, bringt die zarte Ich-Wir Brücke gänzlich zum Einsturz und ist nicht zuletzt in seiner Rhetorik das übelste Vorbild für demokratisches Sich-Begegnen in der westlichen Wertegemeinschaft.
Dass das zentralistisch-kommunistische China bei Schmid nicht gut wegkommt, ergibt sich logisch aus seinem Einsatz für einen wertschätzenden Umgang Regierender und Regierter. Dabei ist die Frage, ob die Chinesen untereinander in konfuzianischer Tradition nicht ein viel gemeinsinnigeres Miteinander haben als die individualistischen Europäer? Gleichzeitig hat das Land viel weniger zu den großen Verwerfungen in der Welt durch bspw. Kolonialismus beigetragen als die europäischen Staaten. Der von Schmid wenig geschätzte „wokeism“ ist letztlich auch ein Ergebnis dieser Aufarbeitung. Er richtet trotz der oft überspitzten Attitüde weniger Schaden an als das, was Europa unter Führung seiner Großmächte in der Welt angerichtet hat und uns in vielfältiger Weise auf die Füße fällt.
Schade
Einverstanden, „aggressiver Humanismus“ führt nicht weiter, aber auch nicht der wenig reflektierte Eurozentrismus.
Waffen, Atomraketen, Wirtschaftsmacht, nicht zuletzt Auftreten: Dir hau ich eine rein. So wie es auf vielen Schulhöfen, sozialen Brennpunkten, sogar Zeitungsredaktionen läuft. Hat philosophischer Idealismus dagegen eine Chance? Er sollte. Aber dann müsste man vielleicht noch tiefer bohren und noch mutigere Hypothesen anpeilen.
Schade: Nach einer sehr hilfreichen Einführung fehlt die Zusammenfassung. Was ist das Ergebnis der Suche, auf die Kernpunkte reduziert? Das wäre bei diesem ebenso wichtigen wie vom Titel her schwierigen Thema hilfreich gewesen. Und: Hilfreich zwar sind die im Text eingesprenkelten Kurzverweise auf Literatur. Am Ende des Buches hätten Autor und Verlag doch eine Literaturliste anfügen können. Und auch ein Register mit den wichtigsten Namen und Schlagworten ist heute anders als in analogen Zeiten kein Hexenwerk.
Wilhelm Schmid: Die Suche nach Zusammenhalt Suhrkamp Berlin 2025
https://www.suhrkamp.de/buch/wilhelm-schmid-die-suche-nach-zusammenhalt-t-9783518432365