Dieses Buch ist vor allem ein Kunstgenuss. Niemals wurden Regenwürmer in dieser Vielfalt, in diesen hübschen Verkleidungen und unterschiedlichen Umgebungen gesehen wie in diesem. Na ja, Name ist Programm, Kunstmann Verlag steht ja vom Sortiment her auch eher fürs Künstlerische.
Durch Dick und Dünn
Es ist aber auch ein mutiges Buch. Denn wer darin sehr viel Erkenntnis sucht, wird vielleicht enttäuscht werden. Aber, andererseits, welchem Buch gelingt das schon? Dabei ist das Buch von Anfang an ehrlich. Regenwürmer sind langweilig und interessieren eigentlich keinen so richtig. Nach der Lektüre aber schon ein bisschen mehr. Weil sie darin ein wenig, ja, menschlicher werden.
Die darin vorgestellte Heldenfigur ist eine Art siamesischer Zwilling. Der Regenwurm hat zwei Köpfe, vorne und hinten. Und da er eigentlich ein ganz miserables Leben führt, Erde und Abfall fressend, immer nur die Erde durchtunnelnd, eigentlich ohne Sinn und Zweck, erhält das Leben dieses charmanten Paares plötzlich einen Sinn, nämlich eine eher liebevolle Zweisamkeit durch Dick und Dünn.
Dann aber passiert’s. Ein heftiger Gewitterregen treibt das Pärchen aus den Röhren auf die Erdoberfläche und ein plötzlicher Blitzschlag trennt sie in zwei Hälften. Die Schwanzhälfte ist verschwunden, sodass die Vorderhälfte sich nunmehr auf die Suche nach einem erfüllenden Solo-Leben macht.
Die Durchlüfter
Nur nichts will so richtig gelingen, weder das Radfahren noch das Dasein als Lasso, selbst das Leben als Stein glückt nicht. Das Dasein als Bandwurm in einem Schwein hat bei allem Luxus, auch in der zeichnerischen Darstellung, nur eine biologisch-ausscheidungstechnisch bedingt sehr kurzlebige Perspektive. Die Suche nach einer in sich selbst ruhenden Identität erhält einen eher philosophischen Anstrich. Im Leben seinen Platz zu finden ist für alle Lebewesen eher eine Engstelle. Und wer im Wurm auch den Menschen erkennt liegt nicht unbedingt daneben.
Dabei leben wir miteinander ja sowieso in Symbiose. In seiner rastlosen Tätigkeit sorgt der Regenwurm für die Lockerung und Durchlüftung des Bodens und ermöglicht damit die Landwirtschaft. In dieser wichtigen Eigenschaft ist er anders als die meisten anderen Tiere völlig schutzlos, einfach nur nackt, und hat trotzdem viele andere Arten wie etwa die Dinosaurier überlebt. Ein veritables Glanzstück der Evolution.
Als unser Titelheld endlich sein nennen wir’s interpretativ Alter Ego, die verloren gegangen Schwanzhälfte wiederfindet, hat die sich völlig verwandelt. Beide erkennen einander nicht und kriechen aneinander argwöhnisch vorbei, so wie gleichnamige sich abstoßende Pole. Wobei bei aller Naturwissenschaftlichkeit bis in den Buchtitel hinein an dieser Stelle noch mal klargestellt werden muss. Anders als der alte Regenwurm-Mythos es will kann bei einer Körperteilung nur das Kopfteil überleben, aus dem Hinterteil wird kein zweiter überlebender Wurm. Aber: In Gefahr oder wenn er gefressen wird, kann ein Wurm sein Schwanzteil abstoßen und sich davon machen.
Quo vadis?
Apropos Naturkundliches: Dieses kleine Wunder und noch andere hätten auf den 254 nicht durchnummerierten Seiten des Buches (10 weniger als offiziell angegeben) gut abgehandelt werden können, was man bei dem Titel eigentlich auch erwarten könnte. Platz dafür wäre gewesen, denn an einigen Stellen wirkt das Buch optisch aufgeblasen und redundant.
Ende gut, gar nix gut: Der Wurm versinkt wieder in seiner Melancholie, bohrt weiter Tunnel, und muss dabei immer höllisch aufpassen, dass er dabei nicht in dem Bau seines Fressfeindes, dem Maulwurf landet. Die Anleitung, wie er sich künftig vor einem Blitzschlag besser schützen kann, scheint angesichts dieses Risikos nicht sooo richtig relevant zu sein. Aber könnte ja auch metaphorisch gemeint sein.
Opulente Optik, kurze Texte, durchaus witzig, mitunter mit schwarzem Humor, aber auch die Liebe schimmert hier durch und die Frage: Was machen wir bloß in dieser Welt? Das darf jeder Leser individuell interpretieren, auch ob er oder sie sich vielleicht mit dem Regenwurm in der Suche nach einer Bleibe, Identität, Partnerschaft verbündet.
Für Groß und Klein
Schön, dass die eher vom Kommerz getriebene Verlagslandschaft noch solche Bücher hergibt. Ein Buch, so der Verlagstext, für „kleine und große Kinder“.