Was für ein Untertitel, philosophischer Rau(s)chsalon, darunter schummeriger Rotwein im Kerzenschein, getragen von einem sehr schlichten Haupttitel: Rumford 11A. Dort wo der Herausgeber, ein ziemlich bekannter, auch umstrittener Politik- und Philosophieprofessor der Münchner Maximilians Universität LMU, residierte. Nachdem die ÖPD in Bayern ein generelles Rauchverbot in Wirtschaften durchgesetzt hatte, zog Hans-Martin Schönherr-Mann, bekennender und leidenschaftlicher Raucher, sich schmollend mit seinem Philosophie-Stammtisch aus dem öffentlichen Raum in seine Privatgemächer zurück. Das Ergebnis der vermutlich reichlich rauchverhangenen Vorträge im Übergang von den Nuller- auf die Zehner-Jahre ist zeitlos und wird von diesem Buch eingefangen. Die nächtlichen Sitzungen dauerten mitunter bis fünf in der Frühe und, wen wundert’s, sind einigen Teilnehmenden als grenzerweiternd-legendär ins Gedächtnis geschrieben.
Rütteln an den Gittern unseres Denkens
Der heute 73-Jährige ist medien-affin, fällt gerne auf, und macht seinem freiheitsliebenden Denken in seinem Beitrag über Verrat Luft. Danach ist für ihn das Festhalten an einer einzigen Lebensauffassung und Meinung der größte Verrat an sich – Wahrheit eher das sich Anpassen an den immerwährenden Wechsel. Das klingt opportunistisch, aber dahinter steckt mehr, als der Autor in seinen philosophischen Schleifen ums Thema erklärt. Unter Journalisten kursiert bis heute ein Spruch, zugeschrieben zwei Gründerpersönlichkeiten, und zwar Henri Nannen, Begründer des Stern, wechselseitig auch Konrad Adenauer, Begründer der Bundesrepublik Deutschland, nämlich: „Was stört mich mein Geschwätz von gestern?“
Klingt eher billig, in der veredelten positiven Form heißt das, dass sich der Horizont nur erweitern lässt, bestenfalls nur diejenigen klüger werden, die regelmäßig ihre Perspektive verändern. Gegenbeispiel wäre jemand wie Putin, der Russland in die Zwangsherrschaft der Sowjetunion zurückführt, weil er den westlichen Liberalismus nie begriffen hat, schon gar nicht mehr mit Ü70, im Gegenteil: Er erlebte in Dresden den Fall der Mauer und das Ende eines Systems, dem kritiklos zu dienen er erzogen worden war und von dem er sich am Ende verraten fühlte. Vielleicht müsste man den kriegslüsternen Kremlchef sogar verstehen … und für alternde Diktatoren gleichzeitig ein obligatorisches Renteneintrittsalter festlegen.
Philosophieren ist also auch, an den Gitterstäben bestehender Ordnungen zu rütteln, und zwar in alle Richtungen – „Denken ohne Geländer“, wie Hannah Arendt das nannte, deren Name im Salon als große Vordenkerin moderner Philosophie wiederholt fällt. In Ableitung hiervon wäre bestimmt konsensfähig, dass große Erfindungen, Neuerungen, Innovation per se immer die Leitplanken überfahren hat. Solche Disruption wird auch der IT-Branche zugebilligt, auch wenn wir uns bei KI noch uneinig sind. Über alle Kontroversen hinweg ist der Begriff zu einem geflügelten Wort geworden. In die Kategorie „Aufmischen“ fallen naturwissenschaftlich auch die Kopernikanische Wende und geisteswissenschaftlich die Aufklärung, um nur einige wenige zu nennen. Auf beide beruft sich der Ausgang aus dem dunklen Mittelalter in die Neuzeit.
Wie relativ ist das Absolute?
Aber wo hört Denken ohne Geländer und Aufwirbeln alten Denkens auf? Fällt Hitler nicht vielleicht auch irgendwie in diese Rüttler ebenso wie der das gesamte westliche Ordnungssystem durchschüttelnde Trump, der bei den “No King” Demonstrationen immer wieder mit dem berühmt-berüchigten Schnurrbärtchen öffentlich kolportiert wird, über die er als Antwort virtuelle Fäkalien mit der Botschaft “f… you” abregnen lässt? Fragt sich, wo müssten wir eventuell dann doch wieder Geländer aufbauen, damit wir nicht in Chaos und Tyrannei enden?
Ein weiteres großes Thema im Salon war die Wahrheitsfindung. Das berühmteste Unendlichkeits-, ja Ewigkeitsthema. Der Salongastgeber himself hatte der Relativität ja von Anfang ein ziemlich feuriges Zeichen gesetzt. Die Vielfältigkeit von Wahrheit zwischen Gut und Böse, Individualität und Gemeinschaft, im Spektrum von Schön und Missraten, Subjekt und Objekt zieht sich – philosophisch ziemlich komplex – durch viele Salonbeiträge. Letztlich steckt diese Uneindeutigkeit auch in dem von Arendt geprägten Begriff von der „Banalität des Bösen“, den sie Eichmann zudachte, was ihr besonders von den in die USA exilierten Juden herbeste Kritik einbrachte. Ein Teufel, in Habitus wie Ton und Vita ein graumäusiger Buchhalter des Todes, mechanistisch Ausführender von Befehlen, oder wie Höß, Kommandant von Auschwitz, ein liebevoller Familienvater – böse in allen Abarten davon ist keine Beschreibung für diese alle Vorstellungen von Ethik und Humanität sprengende Doppelgesichtigkeit. Selbst Hitler glaubte ja die Befehle eines Volkes ausführen zu müssen und mit dem Argument hätte er sich bestimmt in Nürnberg bei den Kriegsverbrecherprozessen verteidigt.
Die Unklarheit von Begrifflichkeiten und konventionellen Kausalketten greift auch das Autorenpaar Bräustetter/Hartung in „Wer denkt wen?“ auf. Vereinfacht ausgedrückt stellen sie die Frage, wer was beeinflusst, ich als genetisch und von meiner sozial-kulturellen Umwelt spezifisch geprägter Mensch, der Gedanken und Thesen in seinen Studien und Büchern in die Welt hinaussendet und dort vielleicht ganz bestimmte Anregungen, womöglich sogar Veränderungen hinterlässt? Aber dann, was geschieht sodann mit dem Sender? Denn diese Umwelt wirkt auf ihn und wird sein weiteres Schaffen beeinflussen. Wobei wir auch wieder beim Gastgeber wären, der ja davor warnt, sich auf eine Dimension zu versteifen. Alles ist ein Kontinuum, in Bewegung, systemisch miteinander verbunden. Henne oder Ei, was war zuerst? – ein klassisches Paradoxon!
Willkommen in der Unendlichkeit!
Am überzeugendsten formuliert in diesem Buch die Arendt-Spezialistin Linda A. Sauer. Sie demonstriert, wie sich selbst Philosophie bildhaft und in gestanzten Worten präsentieren kann, feuilletonistisch und essayistisch, mit Pfiff. Ganz anders als der Ruf, der diesem Fach vorangeht, überkomplex statt auch im Lehnstuhl rezipierbar. Absolutes Highlight ist Sauers Nachwort: Die Philosophie „beginnt mit einer Frage, die ohne Antwort bleiben wird, und setzt einen Prozess in Gang, der unendlich ist – der des Denkens … Sie bringt den Stein des Sisyphos ins Rollen und sorgt dafür, dass er niemals oben liegen bleiben wird. Die Philosophie gleicht der Geburt und feiert doch nie Geburtstag“.
So viel Unbestimmtheit, das ist bestimmt nicht jedermanns Sache, gleichzeitig in dieser verschränkten Vieldeutigkeit verlockend. Es gibt viel zu besprechen, das Leben an sich richtet seit Anbeginn des Homo sapiens viele tiefgründige Fragen an uns denkbegabte Spezies. Insofern ist dieses Werk eine prima Startbahn für weitere Reflexion und die Rezension bricht an dieser Stelle ab mit der wichtigsten philosophischen Frage überhaupt:
Wer gründet den nächsten Rauch-, Rausch- oder einfach nur Salon?
Schönherr-Mann/Jain/Beilhack: Rumford 11A. Der philosophische Rau(s)chsalon 2008-2012. Edtion fatal München 2012, 21 € >> auch zum Herunterladen >>


