Wenn die Geschichte anklopft

80 Jahre. Wie die Bilder einander gleichen! Das zerstörte Berlin im Frühjahr 1945 und das zerstörte Gaza im Herbst 2025. Nur dass Bilder vom Letzteren noch mehr Zerstörung zeigen – tabula rasa. Lernen wir etwas aus dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Neuordnung der Welt, die im Sommer 45 ihren Lauf nahm? Diesem Vorgang widmet der bekannte Historiker Oliver Hilmes eine dokumentarisch-narrative Untersuchung. Inspiriert wie viele andere auch von Kempowskis epochalem Echolot, das aus verschiedensten Menschen und deren Schicksalen ein Kaleidoskop zusammenfügt. 

Potsdamer Teflon-Diplomatie

Hilmes lässt Maschinisten der Nachkriegs-Zeitgeschichte, die für ein halbes Jahrhundert den Fortgang der Historie prägten, auf ihre Eitelkeiten, Schrulligkeiten, Machtbesessenheit  zusammenschnurren. De Gaulle, der zum Sieg über die Nazis wenig beitrug, unbeliebt im Kreise der Sieger, als giraffenartig und Möchtegern-Napoleon beschrieben; der ohne Zigarre undenkbare Churchill, vor Mittag kaum geschäftsfähig, der aus dem vormittäglichen Vollbad seine Regierungspolitik seinem Sekretär diktiert; der Herrenbekleidungsverkäufer und Kurzwarenhändler, äußerlich eher buchhalterische Truman, in den USA auch als „Haberdasher“ bekannt, durch Roosevelts plötzlichen Tod unerwartet gerade erst auf den Präsidentensessel katapultiert, in der Potsdamer Konferenz zur Neuordnung Europas ziemlich unbedarft den Vorsitz führend; und der verschlagene Stalin, dessen Eiserner Vorhang gleich nach Kriegsende Europa in Ost und West zerteilt.

Wobei der Russe und der Franzose in den Siegesfeiern in ihren Hauptstädten sich als die alleinigen Sieger feiern lassen, ohne Hinweis auf die Alliierten. Machtpolitik hüben und drüben, damals wie auch noch heute folgt klar definierten Gesetzen. Insofern waren auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August drei Monate nach Hitlers Selbstmord bereits sämtliche Würfel gefallen. Der Rest sind Teflon-Diplomatie, Essgelage, Trinksprüche, Musik zwischen Klassik und Schlager.

Als Streicher die Hose runterließ

Dies als Zentrum des Buches rahmt der Autor mit vielen anderen biografischen Episoden, darunter der bunt zusammengewürfelten deutschen Emigranten-Community in Kalifornien, zuvorderst Thomas Mann, in seiner Pedanterie nicht weniger schrullig als die Politgrößen. Wie sich den Mann-Kindern auf journalistischer Recherchereise durch Deutschland sämtliche Türen öffneten, Klaus Mann in der Münchner Familienvilla ein ehemaliges Lebensborn-Zentrum wiederfindet, unterteilt in viele Kleinräume, in denen stramme NS-Burschen Elitenachwuchs zeugten für das Tausendjährige Reich. Und wie Streicher, Herausgeber des berüchtigten Stürmer, vor Erika Mann die Hose runterläßt, während Göring weiterhin Hof hält, alle einstigen NS-Größen im Übrigen die Verachtung für den unappetitlichen Emporkömmling Ribbentrop vereint.

Auch unter politischen Gewaltverbrechern herrscht ein Ethos. Versöhnlich zu lesen, wie Papa Mann für wichtige Briefe mehre Anläufe über mehrere Tage benötigte – wenig floss auch ihm so richtig locker und flockig in die Feder.

„Krieg wird nicht in Krawatten ausgefochten“

Hilmes‘ gut lesbarem Erzählwerk liegt eine mühselige Recherche zugrunde. Die Fußnoten stehen am Ende und hemmen nicht den Lese-Flow. Am Ende waren die 251 Druckseiten (in relativ großer Schrift) in fünf Lesestunden bewältigt (und zwar mit Genuss, was man bei eher wissenschaftlichen Werken mitunter nicht so empfindet). Dabei piekste nur ein einziger Dreher (S. 85, Partie statt Partei) ins Auge. Mitunter fragt sich, ob die Personen damals wirklich so gesprochen haben, wie der Autor seine Recherchen in wörtliche Rede ziemlich lax überträgt, ob Himmler sich wirklich auch mit Vornamen gemeldet hat oder Adenauers Gesprächspartner ihm entgegenhält, „das kaufe ich Ihnen nicht ab“.

Beim eher freundlichen Navigieren durch die menschlichen Abgründe kann der Autor auch brutal. So wie er im Detail beschreibt, wie sich Japans Kriegsminister vor der Kapitulation seines Landes mit seinem Messer entleibt, um dem alten Samurai-Kodex Genüge zu tun und seine Ehre zu retten. Geradezu kurios dagegen, wie die Delegation des Tenno ganz westlich in Frack und Zylinder vor den legendären Kriegsherrn des Pazifik, General MacArthur zur Kapitulation tritt. Die ganze Mannschaft auf dem US-Schlachtschiff inklusive er selbst im saloppen offenen Hemd, denn „auch der Krieg wird nicht in Krawatten ausgefochten“, so der alte Haudegen.

… und nun?

Ja, als Beifang der großen Politik, es menschelt in diesem Buch. Sind wir nun wirklich schlauer am Ende der Lektüre? Nicht so richtig, Mensch bleibt Mensch. Das ist keine so richtig gute Empfehlung für eine volatile Zukunft und deren Akteure, in die wir jetzt, 80 Jahre später erneut eingetreten sind.

Oliver Hilmes: Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte. Siedler München 2025. 25 €

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