Wissenschaft und Bürger, das ist wie Mond und Sonne: Sie sind eine Einheit und gehören zusammen. Ohne beide wäre der blaue Planet undenkbar. Der Mond ist wie der Heckrotor eines Hubschraubers, der diesen stabilisiert. Sonst würden er bzw. die Erde wie ein Betrunkener nach zehn Oktoberfest-Maß unberechenbar herumeiern.
Als erster erkannte das der österreichische Wissenschaftsjournalist Robert Jungk, dessen 100. Geburtstag die Welt im nächsten Jahr würdigt:
„Wenn keine Brücken von Forschern zu den Bürgern geschlagen werden, leisten diese im Grunde unwissenschaftliche Arbeit, denn sie lassen die Dimension öffentlicher Akzeptanz oder Ablehnung aus und sind dazu verurteilt, eine inhumane Wissenschaft voranzutreiben, die letztlich in Katastrophen enden muss“.
Das übersetzte die Sozialpsychologie vor gut zwanzig Jahren erstmals in eine Praxisanleitung. Das Schwarz-Weiß-Bild von Laien und Experten hatte ausgedient. Fortan waren Erstere Praxis-Experten, Letztere Fach-Experten, in ihrer Eigenschaft als Katalysatoren, Berater, Anleiter. Das heißt, jeder Mensch ist ein Experte in eigener Sache. Dazu gehören seine Lebenserfahrung und Betroffenheit. Durch deren Einbeziehung erreichen wissenschaftliche Ergebisse ein höheres Potenzial.
Helmut Brand, Professor für „European Public Health“ in Brüssel und neuer Präsident des „European Health Forums Gastein“, fand dafür auf deren Jahreskonferenz Anfang Oktober 2012 im österreichischen Bad Gastein eine noch treffendere Umschreibung: „Health Literacy“ ist der Eckstein aller Gesundheitspolitik, sagte er. Damit meint er einen „Gesundheits-Alphabetismus“, der Bürger und Patienten als mündig und aufgeklärt betrachtet und sie gleichberechtigt in Forschungs- und Heilprozesse einbezieht, modern ausgedrückt inkludiert.
Patienten- und Selbsthilfegruppen werden darin zu NGOs, Nichtregierungsorganisationen, in diesem Fall zu NROs, Nicht-Research-Organisationen, die aber dennoch wie ein Zwilling zum Forschungsprozess gehören.
Noch griffiger hat Reinhard Schwarz, promovierter Soziologe und lange Zeit Organisationsentwickler bei Siemens, jetzt Berater vom Netzwerk Gemeinsinn, diesen Zusammenhang formuliert. Es gibt Experten und Imperten, beide gehören zusammen. Genau das hat Jungk gemeint. Kürzer kann man seinen Gedanken nicht ausdrücken.
Dies ist der Dreh- und Angelpunkt der TELI-Wissenschaft-Debatte. Sie präsentiert sich auf der Wissenswerten in Bremen im November 2012 und will den bundesdeutschen Wahlkampf 2013 begleiten – oder frei nach Jungk zu seinem bevorstehenden Hundersten:
Ohne Bürgerbeteiligung an den großen Forschungsfragen des 21. Jahrhunderts gibt es keine Demokratie!
Imperten – kompetent inkompetent Erfolg mit Exformation von Nichtswissen
Imperten sind das Gegenteil von Experten. Ihre besondere Kompetenz ist, Nichtswissen authentisch zu kommunizieren. Wissen ist sehr schwierig zu vermitteln. Informieren bedeutet: Wissen vermitteln. Imperten jedoch exformieren einfach und verständlich mit Nichtswissen.
Der Wissensballast ist kompliziert und daher nicht fehlerfrei. Daher irren die Experten. Daher gilt: „Errare expertum est!“ Nur die Imperten irren nie, weil nur das Nichtswissen irrtumsfrei ist. Dazu der Naturforscher und Philosoph Jean-Jacques Rousseau: „Das einzige Mittel, den Irrtum zu vermeiden, ist die Unwissenheit.“
Dieses irrtumsfreie Nichtswissen, Alleinstellungsmerkmal und Erfolgsgeheimnis der Imperten ist nicht angeboren. Die Imperten recyceln dazu die verbreitete Unbildung und das allgemeine Nichtswissen aus Gratiszeitungen, Interviews, Kommerzinfos, Nachrichtensendungen, Pressemeldungen, und dergleichen mehr. Das ist das Erfolgsgeheimnis für die exformative Nonsens-Feedback-Bildung. Jeder Blödsinn wird durch Dauerexformation zum richtungsweisenden Trend. Volkstümlicher Unsinn wird zur volksdümmlichen medienweiten Exformation.
Ein weiteres Erfolgsgeheimnis für die Exformation der Imperten ist ihr Auftreten. Das Outfit und Gehabe muss dem Trend und Stil der Zielgruppen entsprechen. Es wirken Frisur, Brille, Sprache, modische Accessoires etc. Und je nach Zeit und Ort entscheiden Almdudler oder Armani über Wahlerfolge und Millionenumsätze.
Als Exformatoren in Gesundheits-, Beratungs- oder Unterhaltungsformaten sind Imperten unübertroffen. Ihre Phantasie wird nicht mehr durch Bildung und Wissen beschränkt. Ihr Nichtswisssen ist Grundlage für die umfassende mediale Exformation. Ganze Nationen werden mit Vorabendprogramen und Quizshows exformiert. Die Gameshow ersetzt die Schule. Der Konsum von Nichtswissen gehört zur gehobenen Familienunterhaltung. Viele Imperten wie z.B. Hademar Bankhofer oder Willy Dungl wurden für ihre Dauerexformationen mit dem Titel eines Professors h.c. von höchster Stelle ausgezeichnet. Musikimperten wie Andreas Gabalier oder Andrea Berg degradieren mit ihrem unverbildeten Musikkönnen jeden ausgebildeten Musiker. Millionen Fans können nicht irren.
In der Wirtschaft garantieren die Imperten Megaprofit mit Nonsens. Blödsinn ist nur, was nicht vermarktet werden kann. Imperten haben das Perpetuum mobile wieder entdeckt. Der Verein „Gaia“ propagiert den Bau von hydrodynamischen Auftriebskraftwerken zur autarken Energieerzeugung fürs Eigenheim und exformiert darüber in profitablen Workshops. Zum Benzinsparen gibt viele Impertenpatente. Merke: Nur mit Nichtswissen kann man Energie aus dem Nichts gewinnen.
Abertausende Imperten bemühen sich mit grenzenloser Empathie und Selbstlosigkeit um Gesundheit und Ernährung. Der Bogen reicht von Wünschelrutengehern, Kräuterhexen, Energetikern etc. bis hin zu approbierten Ärzten und habilitierten Universitätsprofessoren. Allen diesen Imperten der Heil-, Gesund,- Bio- und Naturkunde ist gemeinsam, dass sie die
vergänglichen schulischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse durch ewig gültiges und fehlerfreies Nichtswissen ersetzt haben. Harte Arbeit, die auch für Akademiker lohnt.
Die Toppimperten der Heilkunde sind aber die Homöopathen. Sie wissen alles vom Nichts und heilen auch mit Nichts. Ohne Pause exformieren sie die Welt mit ihrem Nichtswissen. Vom Kuhstall bis zum Kreißsaal und vom Wald bis zum Weltmeer wird alles homöopathisch, also mit nichts behandelt und geheilt.
Wasser ist eines der Lieblingselemente der Imperten. Die verbildeten Lehrbuchforscher wissen nicht, dass Wasser tot und uninformiert ist. Der finanzielle Erfolg des Wasserimperten Josef Grander mit seinem Perpetuum mobile der Bioinformation ist einzigartig. Seine „Wasserbelebung“ ist Standard in Spitälern und „Must-Have“ in Wellnessbranche.
Dank ihrer soliden Bildungs- u. Wissensfreiheit sind die Imperten auch und vor allem in der Politik unersetzlich. Politimperten sind unschlagbar. Das Nichtswissen für politische Exformation wird an Stammtischuniversitäten und in Wurstbudenakademien erarbeitet. Ob Gentechnik oder Handelsabkommen, die Imperten exformieren über alles jeden nach seiner Fasson. Irrtumsfreie Exformationen sind einfacher und verständlicher als die irrigen komplizierten Informationen der Experten. Die alles- u. besserwissenden Suderanten glauben nur den Imperten. Endlich haben sie einen wählbaren Gleichgesinnten gefunden. Und wen die Imperten nicht überzeugen können, den erleuchten sie mit einer Verschwörung. Nur mit Nichtswissen kann man alles einfach erklären und kompetent Verschwörungstheorien kreieren. Derart exformiert wissen wir endlich, dass die Mondlandung in den Studios von Warner Brothers gestellt und 9/11 vom Mossad inszeniert wurde.
Nachrichtensprecher werden durch jahrelanges Vorlesen von Presseagenturmeldungen automatisch zu Imperten. Für diese angelernten Imperten ist es nur ein kleiner Schritt zur Belehrungskompetenz. Als Chefimperten vom Dienst beherrschen sie unumschränkt die Exformationsmedien und signalisieren mit besorgtem bis wichtigtuerischen Mienenspiel, dass sie Nichtswissen besser verstehen als alle anderen, dass sie also kompetent inkompetent sind.
Nichtswissen ist so fatal wie die Null der Mathematik. Gleich der Null, so nichtet, ja vernichtet Nichtswissen Bildung und Wissen. 5 mal 0 ist 0. Bildung mal Nichtswissen ist Nichtswissen. Das macht die Nichtswissenden unbezwinglich. Und wer das nicht wahr haben will, dem begegnen die Imperten mit einer weiteren Kompetenz, der Impertinenz.
Impertinenz schützt nicht sicher vor Bloßstellung. Bildung, Wissen und Misserfolg sind noch immer lauernde Gefahren. Experten haben Erfolg durch Erfahrung und Information. Imperten sind ohne Erfahrung und durch Exformation von Nichtswissen noch erfolgreicher. Wenn selten aber doch der wirtschaftliche Erfolg ausbleibt und der Ruf ramponiert ist, kann es zum Showdown kommen. Die Deperten werden offenbar. Depert ist, wer mit exformativen Nichtswissen scheitert. Depert ist, wie jeder gebildete Altphilologe weiß, die Antiklimax, der Tiefpunkt der Eigenschaft expert. Die Ära der Imperten wird aber noch dauern. Nichts deutet auf ein Ende des Exformationszeitalters hin. Und was sagt uns Goethe dazu? „Es irrt der Mensch solang er strebt!“
© E. Berndt, Attersee
Hier ein schöner Artikel zum Thema Imperten…
http://www.maint.at/memos/dr_berndt/imperten1.pdf
Paulo Freire hatte in gemeinschaftlicher Forschung die Pädagogik im lateinamerikanischen Raum ähnlich bewegt: Die Studierenden gingen in den Semeseterferien zurück in ihre Dörfer und organisierten dort Alphabetisierungsprojekte, damit die Leute zur Wahl gehen konnten.
Die Alphabetisierung ging als Modell des Weltkirchenrates um die Welt, und ist in den frankophonen afrikainschen Ländern immer noch mit der persönlichen und politischen Bewusstseinsbildung verknüpft, die die Pädagogik der Unterdrückten entwickelte.
Das Theater der Unterdrückten von Augusto Boal trieb diese gemeinschaftliche Forschung ebenso weiter und entwickelte nicht nur neue Formen wie das Forum-Theater und das Legislative Theater für gemeinschaftliche Gesetzgebung, eine „Ästhetik der Unterdrückten“ wartet noch auf die deutsche Übersetzung: Wie wir in zunehmender Werbe-Verwirrung den klaren Kopf für gemeinschaftliche Projekte behalten können … oder wieder gewinnen, als Experten unseres eigenen Lebens.