„Im Kontext Großer gesellschaftlicher Herausforderungen kommt dem Dialog zwischen wissenschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Akteuren eine besondere Bedeutung zu, besonders wenn sich diese nicht nur auf die Kommunikation von Forschungsergebnissen beschränkt, sondern den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren Beteiligungschancen bei der Formulierung und gegebenenfalls auch Bearbeitung von Forschungsfragen einräumt.“
Ein Satz mit Sprengkraft. Er hat es schließlich doch in die Schlussfassung eines Positionspapiers geschafft, das der Wissenschaftsrat im April 2015 verabschiedete. (1) Sein Titel: “Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über große gesellschaftliche Herausforderungen“. (2)
Gestrichen wurde dagegen die Formulierung des Entwurfs, die es noch klarer ausdrücken wollte: „Der Wissenschaftsrat erkennt im Kontext der Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen das berechtigte Interesse nicht-wissenschaftlicher gesellschaftlicher Akteure an, an der Gestaltung von Forschungs- und Innovationsprozessen mitzuwirken.“ Dass es dieser Satz nicht in die publizierte Endfassung schaffte, darf so interpretiert werden, dass aus Sicht des WR das Interesse nicht berechtigt ist.
Vorangegangen war ein über Erwarten langwieriger, weil kontroverser zweijähriger interner Diskussionsprozess im Rat. (4) Die Stellungnahme ist daher auch gefüllt mit Konsensformulierungen und einer Addition von „Desideraten“, die aber nun, nach dem Wunsch des Gremiums, bitte anderswo abgearbeitet werden sollen.
Erstaunlich indes: Der Ball, den der Wissenschaftsrat ins Spielfeld der wissenschaftspolitischen Debatte geworfen hat, wird nicht aufgefangen. Der Diskurs über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, vor allem über gegenseitige Einflussnahmen, kommt seit Monaten nicht zustande. Intensiv hatte der Wissenschaftsrat reflektiert, welche großen Aufgaben sich der Gesellschaft heute und künftig stellen – sei es Klimawandel, Demografie oder Welternährung – und welchen Beitrag wissenschaftliche Forschung zu ihrer Bewältigung leisten könne. Das Papier liefert zwar keine fertigen Antworten, versteht sich aber als Schritt zu einer präziseren Fragestellung. Bereits 2013 hatte sich der Wissenschaftsrat Gedanken zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft gemacht (5).
Warum dieses Schweigen? Befinden wir uns doch in einem Jahr, das – über die Neuformulierung der „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nation oder dem Klimagipfel in Paris – günstige Rahmungen für einen breiteren Wissenschaftsansatz anbietet. Auf dem G7-Gipfel in Elmau wurde dies, im Schulterschluss von Wissenschaft und Politik, in drei Fällen (Antibiotikaresistenzen, Tropenkrankheiten und Zukunft der Meere) bereits praktiziert.
Vor drei Jahren war es noch anders. Damals entfachten zivilgesellschaftliche Organisationen, vor allem von Seiten der Umweltverbände, eine energische Diskussion über die Vernachlässigung des Themas „Nachhaltigkeit“ in der deutschen Wissenschaft. Symposien bis hinauf in die Spitzen der führenden Forschungsorganisationen waren die Folge. Sogar eine Zivilgesellschaftliche Plattform „Forschungswende“ wurde von den Verbänden ins Leben gerufen. Heute, bei der Erweiterung um Themen auch jenseits der Ökologie, bleibt derlei diskursives Engagement aus. Sind die „Großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ zu gesellschaftsfremd? Das ist zumindest definitorisch unmöglich.
Einem „normalen“ gesellschaftlichen Diskursmodus hätte es entsprochen, wenn das Papier des WR eine gewisse, durchaus begrenzte Zahl, von Reaktionen aus dem gesellschaftlichen Raum – Interessenorganisationen wie Einzelpersönlichkeiten – nach sich gezogen hätte. Von Applaus („Endlich“) bis Verriss („Elfenbeinern“). Doch es kommt nichts. Bis auf eine Handvoll Statements in der schmalen Nische wissenschaftlicher Blogs (3) hat die Äußerung des Wissenschaftsrates keine Beachtung gefunden. Auch nicht in der Presse. Das ist unverhältnismäßig.
Der Grund für dieses Schweigen liegt nicht im Papier. Auch nicht ausschlaggebend am Stil der häufig abgehobenen innerwissenschaftlichen Erörterungen, wie derzeit über den „Solutionismus“ der „Transformativen Wissenschaft“. Der Grund liegt in einem Wandel gesellschaftlicher Diskursfähigkeit, die in unserm Land heute erkennbar dabei schwächelt, die großen Probleme adäquat zu erkennen und lösungsorientiert zu verhandeln. Ich räume ein: Die Medien haben ihren gerüttelten Anteil daran.
Manfred Ronzheimer
(1) http://www.wissenschaftsrat.de/presse/pressemitteilungen/2015/nummer_09_vom_27_april_2015.html
(2)
http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4594-15.pdf
(4)
http://www.taz.de/!5021356/
Ist es nicht vielleicht auch so, dass viele gesellschaftlich aktive Gruppen erfahren haben, dass es schwer ist mit der Wissenschaft ins Gespräch zu kommen? Dass die Wissenschaft ihre eigenen Lösungen verkaufen, aber nicht zuhören will?
Das Positionspapier des Wissenschaftsrates gehört eigentlich auf den Kopf gestellt: Die Wissenschaft unterbreitet das Angebot für eine Mitwirkung, aber sie kümmert sich nicht um die Nachfrageseite, die Fragen, die in der Gesellschaft kursieren. Denn gesellschaftliche Gruppen können ja nur mitwirken, wenn ihre Fragen in ein gefördertes Forschungsprogramm passen.
Da die Forschungsrichtungen von einer relativ kleinen Gruppe zum Teil selbst ernannter Experten definiert werden, bietet die Wissenschaft vielfach Lösungen an, die keine echte gesellschaftliche Relevanz haben, die schlichtweg nicht interessieren. Es fehlt in dem Positionspapier die Berücksichtigung der Nachfrageseite, da hinhören auf gesellschaftliche Diskurse.
Ein Teil der Wissenschaftler wählt die Forschungsthemen selbst aus. Das ist die Freiheit der Wissenschaft und notwendig, damit neue Ideen erforscht, neue Erkenntnisse gewonnen und neue Entdeckungen gemacht werden können.
Ein anderer Teil will die Methoden und das Wissen der Forschung durchaus für die Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen einsetzen. Nur richten diese Forscher sich dabei nach den Vorgaben von Forschungsprogrammen, die die großen Finanzierer vorgeben, von der EU-Kommission über die Forschungsgesellschaften bis zur Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Vorgaben der Forschungsförderinstitutionen sind aber politisch motiviert. Es wird nur das gefördert, was eine kleine Gruppe von Forschungspolitikern und Forschungslobbyisten für Herausforderungen halten, nicht was die Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppen für relevant ansehen. Es ist also nur möglich, auf den Gebieten Unterstützung von der Wissenschaft zu bekommen, die von Politikern und Forschungsförderern als Themen definiert wurden.
Das Dilemma machen ja Anstrengungen in den angewandten Wissenschaften deutlich. Zahlreiche Start-ups bauen auf Erfindungen und Methoden, die sie versuchen zur Marktreife zu entwickeln. Aber nur wenige dringen mit ihren Ideen und Lösungen durch, weil der Markt die Erfindungen nicht will oder nicht braucht. Im Bereich der Nanotechnologie ist das besonders deutlich, in dem mehr Hype – oder Werbung – kursiert als Realismus.
Ideen und Fragen aus der Gesellschaft können von der Wissenschaft also nur aufgegriffen werden, wenn sie sich in ein Forschungsprogramm zwängen lassen. Das frustriert natürlich.
Das große gesellschaftliche Schweigen auf das Dialogangebot des Wissenschaftsrates ist vielleicht nur einfach die Antwort auf diese Frustration. Es hilft dann auch nicht, wenn die Medien das Angebot weiter verbreiten, dass die Wissenschaft die Mitwirkung an Innovationsprozessen anbietet, wenn sich die Wissenschaft nur auf sich selbst und ihre Lösungen für aktuell nicht relevante Fragen fokussiert.
Umgekehrt würde eher ein Schuh daraus: Die Wissenschaft sollte an Innovationsprozessen mitwirken, die sich in der Gesellschaft abzeichnen.