Die Juni 2023 Ausgabe von Lora Wissenschaft Kontrovers – zum 30. Bestehen des Bürgerradios – befasste sich mit Protestkultur, speziell jener der Klimakleber. Von der FAZ als „Erpressung“ verurteilt, bei BILD als „kriminell“ markiert, in der CSU als „Klima-RAF“ eingestuft: Was sagt die Moralphilosophie? Gast im Studio: Dr. Patrick Zoll, Jesuit und Professor der Hochschule für Philosophie München.
Der Ethiker und Metaphysiker charakterisiert Proteste als Kernelement abendländischer Zivilisationsgeschichte. Beginnend mit der griechischen Mystik, in der sich Antigone gegen ihren König auflehnte, über das Aufbegehren der Kolonisten Neu Englands gegen die britische Krone, zu den Suffragetten für das Frauenwahlrecht, der US-Bürgerrechtsbewegung, Sitzblockaden der AKW-Aktivisten. Immer wieder war es ziviler Ungehorsam, Verstoß gegen konventionelle Ordnungsvorstellungen, mitunter Brechen der Gesetze, die den Weg zu Beteiligung und Demokratie, mehr Gerechtigkeit und Menschenrechte geebnet hat.
Die aktuellen Klimaproteste seien Glied dieser Kette und Zoll nannte drei Gründe für ihre Legitimität: Brisanz des Themas, Zukunft des Planeten, vor allem den Staat zum Einhalten seiner eigenen Gesetze und Klimavereinbarungen anhalten.
Hierbei beruft sich Zoll unter anderem auf den aristotelischen Grundsatz vom „guten gelingenden Leben“, der in der Morallehre einen verbindlichen objektiven Charakter hat. Dieser Maxime sind Politik wie auch Proteste zu unterwerfen. Beide messen sich demokratietheoretisch an der „grundlegenden Gerechtigkeit“ ihrer Maßnahmen.
Das Ankleben an Straßen sei zwar ein Gesetzesbruch, aber einer, um ein anderes Gesetz wiederherzustellen und größeres Unrecht zu verhindern, die globale Erderhitzung. Dieser Einsatz für das Allgemeinwohl ist für Zoll nicht kriminell, um so weniger, als er gewaltfrei abläuft, öffentlich, mit Hinweis auf die Brennpunkte der Störungen.
„Die grundlegende Ordnung wird respektiert“, beobachtet Zoll, weshalb Vergleiche mit Reichsbürgern und Terrorismus abwegig seien. Das sei „verbale Gewalt“, die zur sozialen Spaltung beiträgt. Medien und Politiker sollten ihre Rhetorik zügeln.
Ließe sich Ankleben nicht auch als übertriebener Alarmismus bewerten? Der Kabarettist und Physiker Vince Ebert schlägt in Lichtblick statt Blackout vor, dass es nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf vor fünf sei, viele Wege aus der Klimaerwärmung führten, etwa Fusionsreaktoren. Und überhaupt, wären nicht andere Protestformen denkbar, Schweigemärsche oder Fahrrad-Demos für Tempo 100?
Zoll verwies auf die Kipppunkte, den wissenschaftlich bewiesenen progressiven Klimawandel infolge von CO2-Emissionen, Warnungen des UN-Klimarates, weitgehend nutzlosen internationalen Klimaabkommen, währenddessen der befürchtete „point of no return“ nahe. Insofern agierten die Klimaprotestler aus einer „ultima ratio“, der letztmöglichen Ausfahrt.
Kein „weiter so“, resümierte Co-Moderatorin Lisa Popp die Debatte: „Die Politik muss aktiver werden.“