Auf den 312 Seiten dieses Buches hat der Rezensent 42 gelbe Einmerksticker hinterlassen. Sie markieren seine handschriftlichen Bleistiftkommentare. Ein Gros davon heißt „nerdig“, „unklar“, „zu lang“ und dergleichen. Ich will gestehen: Ich habe vielleicht nur die Hälfte von „1000 Sprachen. 1000 Welten“ gelesen. Immer wieder fühlte ich mich hineingezogen, aber immer wieder auch enttäuscht. Die Groschen über die Geheimnisse, die unseren Sprachen innewohnen, wollten nicht so richtig fallen, allenfalls ab und zu, verhalten.
„Die Zukunft liegt hinter Ihnen“
Diese Reaktion begann schon beim Vorwort und beim Nachwort. Bei denen erwartet man, dass Autoren alle Register ziehen, um die Inhalte auf den Seiten dazwischen noch mal besonders zu konzentrieren, in einer Essenz zu veredeln. In diesem Buch geraten diese Segmente eher wie ein Schluck warmes Wasser, wenig sprudelig und labend. Hierzu lassen sich auch die gutgemeinten Resümees der Kapitel zählen.
Die Kapiteltitel dagegen lesen sich spannend, etwa „Die Zukunft liegt hinter Ihnen“, „Der Himmel ist grue“. Hier rollt der Autor die Umgebung und das Ambiente, Sonnenlauf, die Topografie wie Berge, Täler und Flussströmungen, Sinnliches wie Farben und Gerüche als Keime, Gerüste, Zeitformen von Sprache aus. Ja, das ist sehr konkret, etwa wie das saugende „M“ampf-Geräusch eines Babys, das an der Brust liegt, das „M“ die Begriffsbildung rund um die weibliche Brust geprägt hat. Gleichwohl Beispiele fehlen. Und: Ob die Bewohner arktischer Regionen nun eine ganze Vielzahl von Begriffen für Schnee und seine verschiedenen Erscheinungsformen und Konsistenzen haben oder ob das ein Mythos ist, das wird nicht aufgeklärt.
Wie die Lautbildung zwischen Kehle und Stimmbänder, Mundhöhle und Zunge sowie Nase entsteht, darüber wünschte man sich mehr „Ikonizität“, anderweitig ein großes Thema im Buch, ‚“zeichenhafte Anschaulichkeit“ über das Zusammenwirken dieses wundersamen Mechanismus, der Menschen die Sprache schenkte und zum Homo sapiens machte. Nicht nur, dass die Luftfeuchtigkeit die Funktion der Stimmbänder beeinflusst, damit die Laut- und Wortbildung, sowie hohe Töne eher der Inbegriff von „klein“ sein könnten, tiefe und lautmächtige der von „groß“. Eine anschauliche Grafik über die im Wissenschafts-Sprech weitgehend abstrakt bleibende Kooperation der Stimmbildner wäre hilfreich gewesen.
„Ich stehe auf Döner“
Dass in einigen Sprachen Schachtelsätze nicht existieren, ist interessant, lässt gleichzeitig auch fragen, warum wir im Deutschen immer wieder auf über eine Seite lange Sätze stoßen. Dass Redewendungen wie „ich stehe auf Döner“ neben den eigentlichen Wörtern, ihrer Entstehung und lauttechnischen Formung sowie ihrer grammatikalischen Verknüpfung eine besondere Herausforderung darstellen ist klar, aber der Rekurs des Autors auf seinen Englischunterricht mit Spanischsprachigen bleibt eher an der Oberfläche.
Ein großes Verdienst des Buches hingegen ist der grundsätzliche Hinweis, dass die wichtigsten Sprachen der Welt aus dem Indogermanischen hervorgegangen sind und viele Sprachforscher, Linguisten, Anthropologen diesen Kulturen entstammen, in denen die in Europa entstandenen und miteinander verwandten Sprachen gesprochen werden, sie vielleicht auch eine ein wenig kolonialistische Attitüde gegenüber anderen Sprachfamilien hegen. Hierfür gibt es einen Fachausdruck, nämlich WEIRD, ausbuchstabiert in „Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic“, wahrscheinlich erweiterbar um weiß und männlich. Was auch die Grenzen der Sprachforschung in einer Welt der absterbenden indigenen Sprachen andeutet: der eurozentrische Ansatz. Der Titel dieser Rezension ist hiervon inspiriert, eine der möglichen Übersetzungen des englischen Wortes „weird“ ins Deutsche.
Am Rande: Interessant wären die Forschungen und Einlassungen, eventuell sogar ein Streitgespräch europäischer und US-amerikanischer Experten mit denen aus anderen Mainstream-Hoch-Kulturen wie dem arabischen, chinesischen Sprachraum. In einem Folgeband?
Der Weg bleibt das Ziel
Der Autor Caleb Everett ist ein renommierter und preisgekrönter Kognitionswissenschaftler und Anthropologe, Kind US-amerikanischer Missionare, der im Amazonasbecken mit Indigenen und deren Sprachenvielfalt aufgewachsen ist. Wie er in vielen Buchpassagen einräumt, ist das Forschungsfeld riesig, alte Theorien wackeln, neue bahnen sich ihren Weg, auch dass das Sprechen-Lernen von Kindern weiterhin zu den größten weißen Flecken der Forschung gehört. Insofern, „work in progress“, und auch hier: Der Weg bleibt das Ziel.