Caroline Braun studiert Medienwissenschaften und Informatik an der Universität Bayreuth. Während Ihrer Hospitanz in der P.M. Redaktion deckte sie auf, dass nicht nur Verteidigungsminister ihre Doktorarbeiten abschreiben — gerade Journalisten arbeiten mit der Copy-Paste-Methode — siehe auch „Geburt eines Mythos„. In diesem Beitrag hier fragt sie kritisch nach der Ethik von Journalisten. Die stand auf dem TELI-Blog schon öfters auf dem Prüfstand. Geschichten über verschwundene Kinder werden dramatisiert, zur Story aufgebauscht und zu einer Heldenreise gemacht, an deren Ende oft unschuldige Eltern in Verdacht geraten, denn: The Show must go on!
Der Medienkrimi um verschwundene Kinder – Ein medienwissenschaftliche Analyse
Zwei Kuscheltiere an sich gedrückt steht Irina Lucidi vor der Kamera und bittet um Mithilfe bei der Suche nach Livia und Alessia. Der Vater hatte die Mädchen Ende Januar entführt und sich kurz darauf vor einen Zug geworfen. Ihre Mutter beteiligt sich fieberhaft an der Suche nach den verschwundenen Kindern. Aber besorgte Stimmen raten ihr, seltener in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Obwohl es keine Beweise für ihre Beteiligung an dem Verbrechen gibt, wird befürchtet, dass sich die Presse gegen Lucidi richten könnte. Die Besorgnis ist begründet. Nach dem Verschwinden von Madeleine McCann 2007 standen ihre Eltern als Hauptverdächtige monatelang im Focus der Ermittlung.
Charles Lindbergh wird bis heute des Mordes an seinem Sohn verdächtigt, obwohl der wahre Schuldige gefasst ist. Die Mutter der verschwundenen Azaria Chamberlain wurde 1982 in Australien sogar zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl alle Beweise dafür sprachen, dass ihr Baby nicht von ihr, sondern von einem Dingo getötet wurde.
Wieso ist zu befürchten, dass Irina Lucidi ein ähnliches Schicksal erwarten könnte?
Die Bilder von verschwundenen Kindern bringen meist unbekümmerte oder verängstigte Unschuld zum Ausdruck. Die Polizei versucht durch diese Bilder das Mitleid möglicher Zeugen zu wecken. Journalisten jedoch setzen sie meist zu einem andere Zweck ein: Durch die Bilder bekommen die Kinder eine klassische Opferrolle innerhalb des Krimis zugeteilt, welche die Presse um ihr Verschwinden spinnt.
Bedauerlicherweise bedeuten verschwundene Kinder für viele Journalisten nämlich genau das: eine gute Story. Das Argument, die Presse versuche durch die Berichte die Aufklärung der Verbrechen zu unterstützen, lässt sich entkräften, wenn man bedenkt, dass so gut wie alle prominenten verschollenen Kinder weiße, blonde Mädchen sind.
In den USA herrscht bei der Berichterstattung über verschwundene Bürger ein so starker Kontrast zwischen Weißen und Afroamerikanern, dass der Begriff „Missing white woman syndrome“ (MWWS) entstanden ist. Grausam ausgedrückt: die Presse nimmt bei der Berichterstattung über verschwundene Kinder eine Auswahl vor und widmet sich nur jenen, die ein besonders interessantes Opfer abgeben.
Auch bei der übrigen Berichterstattung wird nach dramaturgischen Maßstäben vorgegangen. Hier lohnt sich ein Blick auf eine Theorie von Christopher Vogler. Durch die Analyse zahlreicher Filme hat Vogler ein Grundrezept für funktionierende Geschichten entworfen. Dieses Grundrezept lässt sich so zusammen fassen:
Der Protagonist muss seine gewohnte Welt verlassen, um eine Aufgabe zu bestehen. Nachdem er zahlreiche Prüfungen durchlaufen hat, ist er scheinbar am Ende der Reise angelangt. Dann offenbart sich jedoch, dass die wichtigste Prüfung oder Erkenntnis des Helden noch bevorsteht. Laut Vogler laufen alle funktionierenden Geschichten nach diesem Grundschema ab – jede gute Story hat einen unerwarteten Twist.
Das Schema ist so fest in den Köpfen verankert, dass es auch ohne Kenntnis von Voglers Theorie instinktiv angewendet wird.
Im Falle eines verschwundenen Kindes läuft die „Geschichte“ zunächst nach dem Schema ab: Die Ermittlungen werden aufgenommen, die Opfer vorgestellt, Zeugen befragt und Indizien gesammelt. Die Polizei versucht die Herausforderung zu meistern. Bis zu diesem Punkt erzählt die Presse den Anfang einer vielversprechenden Story.
Wenn die Ermittlungen jedoch ins Stocken geraten, droht die Geschichte langweilig zu werden. Deshalb helfen Journalisten nach und erzeugen einen künstlichen Twist in dem sie die Eltern als Tatverdächtige ins Spiel bringen. Die besten Krimis sind immerhin solche in denen am Ende derjenige der Mörder ist, von dem es niemand erwartet.
Im Fall von Madeleine McCann wurden ihre Eltern zunächst allseits bedauert. Als die Ermittlungen jedoch in eine Sackgasse gerieten, begann die Stimmung zu kippen und Anschuldigungen gegen die Eltern wurden laut. Zum Verhängnis der Mutter von Azaria Chamberlain wurde, dass sie und ihre Familie Siebenten-Tags-Adventisten waren.
Ein Baby das bei einem Campingausflug von einem Dingo geschnappt wird? Das langweilt schnell. Die Geschichte eines Babys, das von seiner kaltherzigen Mutter in der Wildnis im Rahmen eines Sektenopfer erstochen wird, bietet hingegen Stoff für monatelange Berichterstattung. Leider waren die genannten Fälle keine Krimis, sondern reale Begebenheiten, die keinen dramaturgischen Regeln folgen.
Im Fall von Irina Lucidi werden bereits Stimmen laut, die ihr unterstellen, sie hätte ihren Mann in den Selbstmord getrieben und sei indirekt Schuld am Schicksal der Mädchen. Ob die Presse auch diesem Fall eine künstliche Dramaturgie aufstempeln und Lucidi dafür opfern wird, bleibt abzuwarten.
Links
Madeleine McCann Verschwinden
Livia und Alessia Schepp
Lindbergh Baby
Die Prinzen im Tower
White Woman Missing Syndrome
Azaria Chamberlain Fall
Christopher Vogler – Die Reise des Helden
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