TELI Herbst-Buchtipps ’21: Die Welt anders MACHEN

So wie Wolfgang Goede in seinen TELI Sommer-Buchtipps vom 2. August 2021 an die Verirrungen im Nazi-Regime mahnt, so könnten uns unsere Kinder und Enkel eines Tages unsere eigenen Verirrungen vorwerfen. „Warum habt ihr es nicht geschafft, unser Leben auf der Erde zumindest lebenswert zu erhalten“, werden sie fragen. „Ihr habt seit Jahrzehnten ganz genau gewusst, was eure Lebensweise bewirkt und nichts getan.“

Goede stellte dazu das Buch von Maja Göpel: „Unsere Welt neu denken“ vor. Das wäre auch mein Lesetipp gewesen, ist Göpel doch eine der wenigen Ökonominnen, die die falsche Denke der herrschenden Ökonomie nicht nur entlarvt, sondern zugleich eben auch eine Richtung für ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsdenken vorschlägt.

Ob sich die Welt aber mit Denken allein verändern lässt? Werden nicht vielmehr die Entwicklung in der Welt und ihres Klimas unsere Debatten zwangsläufig in neue Richtungen lenken?

Spätestens wenn Menschen nebenan vor Hitze tot umfallen, wenn apokalyptische Wassermassen Häuser und Existenzen wegspülen, wenn Stromleitungen gekappt sind, Smartphones schweigen und wenn das Geld alle ist, um die Grundlagen unserer jetzt noch existierenden Gesellschaft zu reparieren, spätestens dann wird die Gesellschaft zwangsläufig neu denken müssen.

Wenn es ganz übel kommt und der westantarktische Eisschild instabil wird, dann werden viele der heute Geborenen miterleben, wie der steigende Meeresspiegel nicht nur die Menschen auf Inseln in die Flucht vor den Fluten treiben, sondern auch die Einwohner der Millionenstädte an den Küsten verjagen.

IPCC-Klimabericht mit interaktivem Atlas

©IPCC2021

Neulich (2021-08-09) stellte der Weltklimarat IPCC auf einer Online-Pressekonferenz den ersten Teil des sechsten Sachstandsberichts zum Klimawandel vor. Das Ergebnis: Die physikalischen Grenzen des Erdsystems lassen nicht mehr viel Spielraum für die weitere Entwicklung der Zivilisation. Der Klimawandel holt uns schneller ein, als die Szenarien der Modelle vorhersagten, die früheren Sachstandsberichten zugrunde lagen. Extreme Wetterlagen und vor allem tödliche Hitzewellen werden häufiger. Die materiellen Kosten für Schutz- und Wiederaufbaumaßnahmen werden den angehäuften Wohlstand in den reichen Ländern auffressen und für Millionen von Menschen in Afrika, in Teilen Südamerikas und Asiens Flucht, Krankheit, Hunger und Tod bedeuten.

Wer sich durch die fast 4000 Seiten wissenschaftlicher Texte nicht durcharbeiten kann oder will, dem seien zumindest die gut verständlichen Statements der 39-seitigen Zusammenfassung für Politiker an Herz gelegt, die es demnächst auch auf Deutsch geben wird.

Neu ist der unbedingt ausprobierenswerte, interaktive Atlas zu dem Bericht. Hier lässt sich anhand zahlreicher Filter und Wahlmöglichkeiten die Klimaentwicklung sogar regional für dieses und die nächsten Jahrhunderte besonders anschaulich erkunden.

AR6 Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Links zum Bericht, zur Zusammenfassung, zum interaktiven Atlas und einer Liste mit Fragen und Antworten auf Englisch gibt es hier: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/

Übersetzungen bei der Deutschen IPCC-Koordinierungsstelle: https://www.de-ipcc.de/350.php

Lena Puttfarcken: Ergebnisse des Weltklimarats. Deutsches Klima-Konsortium mit Jochem Marotzke, Veronika Eyring, Dirk Notz: https://klimasimulationen.de/weltklimarat/


Deutschland, wie wir es heute kennen, wird in nur 20 bis 30 Jahren ein anderes Land sein

Viele der heutigen politischen und gesellschaftlichen Debatten werden in wenigen Jahrzehnten im Rückblick nichtig, überflüssig und höchst abgehoben erscheinen. Die Wirklichkeit wird über die Menschen hinweg rollen. Selbst wenn es der Welt gelänge, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2050 drastisch zu senken, wird es in Deutschland dann im Durchschnitt mindestens um zwei Grad Celsius wärmer sein als vor der Industrialisierung.

Die beiden Journalisten Nick Reimer und Toralf Staud haben sich auf eine Reise begeben und Experten vor Ort befragt, was Klimawandel für „Deutschland 2050“ ganz konkret bedeutet.

2007 hatten die beiden noch Hoffnung. Ihr damaliges Buch „Wir Klimaretter“ hatte den Untertitel „So ist die Wende noch zu schaffen“. Heute, 14 Jahre später, stellen sie fest: Es wird Dicke kommen. Wissenschaftlich abgesichert, jetzt im Nachhinein auch durch den oben empfohlenen physikalischen Teil des 6. Sachstandsberichts des IPCC.

Wetterextreme werden zunehmen, vor allem Hitzewellen mit zahlreichen Toten. Landwirte gehen von unregelmäßigen Ernten aus und Förster wissen nicht, welche Baumarten dem Klimawandel die nächsten 80 bis 100 Jahre trotzen. Infrastrukturen, immer noch für das Klima der Vergangenheit geplant und gebaut, werden brechen. Regional und zeitweise kein Strom, kein Telefon, kein Internet, zerstörte Straßen, Flüsse ohne Wasser und Industrien ohne Rohstoffnachschub. Vieles davon erlebten vor Kurzem schon die Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und 2018 die Industrien am Rhein.

Das Buch bietet einen nüchternen, realistischen Ausblick auf das, was in den nächsten dreißig Jahren auf Deutschland zukommt, worauf das Land nicht vorbereitet ist, während die Zeit davon läuft. Gut lesbar, sachlich, ohne Übertreibungen, überzeugend.

Dass Reimer und Staud nicht auf den Zug des „positiven“ oder „konstruktiven“ Journalismus aufspringen, verleiht den Reportagen und Berichten besondere Glaubwürdigkeit.

Nick Reimer, Toralf Staud: Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird. Kiepenheuer & Witsch, 374 Seiten, 18,00 EUR (eBook 16,99 EUR). https://b2l.bz/RGY8Xl

Besser streiten

Die inzwischen wohl allseits bekannte TV-Wissenschaftsjournalistin, Youtuberin und Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim hat ein journalistisches Meisterwerk in Buchform vorgelegt. In acht Kapiteln greift sie in „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ zwar auf Themen zurück, die sie bereits in ihrem Youtube-Kanal brillant präsentiert hat. Aber als Longreads im Buch dröselt sie die wissenschaftlichen Hintergründe auf, für die in einem Video die Zeit fehlt. Es geht um die Legalisierung von Drogen, Videospiele und Gewalt, Gender Pay Gap, Pharma gegen alternative Medizin, Impfungen, Erblichkeit von Intelligenz, warum Frauen und Männer unterschiedlich denken, und um Tierversuche.

Ihre Hoffnung ist, dass sich gesellschaftliche und vor allem politische Debatten nicht in immer abgehobenere Sphären erheben, sondern bei der Wirklichkeit bleiben und sich auf Evidenzen gründen. Da greift sie auch gerne schon mal ihre eigene Medienprofession an, die einzelne Forschungsergebnisse unbesehen, ohne deren Einbettung in die wissenschaftliche Auseinandersetzung und vor allem ohne Methodenkenntnisse als Sensationen hypen.

Sie erläutert so grundlegend wichtige Unterschiede zwischen Wahrheit und Plausibilität, Kausalität und Korrelation, erklärt, warum es gerade auch für Wissenschaftsjournalisten wichtig ist zu wissen, was der Korrelationskoeffizient r, die Signifikanz p, und die Effektgröße d sind.

Sie verweist auf die Schwierigkeiten psychologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Zwar wenden auch sie ausgefeilte Methoden an, aber letzten Endes fußen die Forschungen auf Umfragen oder Beobachtungen, in die Fehleinschätzungen von Befragten und Verzerrungen von Forschern einfließen. Hier sei es wichtig, nicht auf einzelne Puzzleteile, also einzelne Veröffentlichungen, zu sehen, sondern immer wieder das ganze Bild in den Blick zu nehmen – also nicht an einfache Antworten zu liefern.

Im 9. Kapitel zieht sie als Resümee, dass eine Gesellschaft eine „kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ braucht. Es ist für sie ein Debattenfehlschluss zu behaupten, dass „die Suche nach dem Konsens dem freien Meinungsaustausch und einer freien Debattenkultur im Wege steht“. Vielmehr sollte sich eine Gesellschaft auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren: „Wenn wir uns nicht darauf einigen können, dass die Klimakrise immer schwieriger zu bewältigen sein wird, je länger wir warten, verlieren wir kostbare Zeit, in der wir um gute Klimastrategien ringen können. … Wissenschaftlichkeit heißt nicht, weniger zu streiten, sondern besser.“ Genau das sollte die Wissenschaftsdebatte der TELI eigentlich leisten

Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Droemer, 367 Seiten, 20,00 EUR (eBook 17,99 EUR). https://b2l.bz/Sg5ExB

Noch besser streiten

Zum Schluss ein Debattenbeitrag, der erklären könnte, warum die Botschaften von Wissenschaftlern und Wissenschaftsapologeten, aber auch von Gesellschaftsveränderern und Wirtschaftsneudenkerinnen einen großen Teil der Gesellschaft nicht erreichen. Dass die so wichtigen Umwelt- und Klimathemen auf so viel Widerstand in breiten Schichten der Bevölkerung treffen, ist vielleicht nicht so sehr ein Kommunikationsproblem, sondern erwächst aus einem tief sitzendes Gefühl von Ungerechtigkeit und Marginalisierung auf Grund einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung.

Lesenswert ist Sahra Wagenknechts „Die Selbstgerechten“ aber allein schon deswegen, weil sie mit den gesellschaftliche Debatten der von ihr so genannten Lifestyle-Linken hart ins Gericht geht. Sie kritisiert nämlich genau die Debatten, die sich abgehoben von der Wirklichkeit nur um die eigene Identität drehen.

„Wer sich auf Gendersternchen konzentriert statt auf Chancengerechtigkeit und dabei Kultur und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerungsmehrheit vernachlässigt, arbeitet der politischen Rechten in die Hände“, heißt es im Klappentext.

Das Buch ist im ersten Teil eine durchaus plausible politisch-sozialwissenschaftliche Analyse, gefolgt von einem eher vage formulierten Gegenprogramm als zweitem Teil.

Aber im Zusammenhang mit den weiter oben vorgestellten Publikationen macht Wagenknechts Analyse deutlich, wie weit entfernt die Erzählungen, mit denen Politiker und „linksliberale“ Gutverdienerschichten die öffentlichen Debatten dominieren, von der Wirklichkeit entfernt sind.

Der Linksliberalismus, den Wagenknecht in der gut verdienenden großstädtischen Akademikerschicht verortet und kritisiert, gehe über die wirklichen Interessen und Lebensentwürfe der meisten Menschen hinweg, der Arbeiter, einfachen Servicebeschäftigten und der klassischen Mittelschicht. Er stelle Menschen in die politisch rechte Ecke, die sich als wirtschaftliche Verlierer fühlen. „Die meisten Wähler rechter Parteien sind keine Feinde der Demokratie“, schreibt sie. „Viele haben vielmehr den Glauben daran verloren, in einer zu leben.“ Wer von den rede- und schreibgewandten Linksliberalen dafür beleidigt werde, dass er für ein wenig mehr soziale Sicherheit kämpft, für den gelte der Beleidiger als links und würde deshalb schnell zum Hassobjekt.

So sei der Mehrheit die Bewahrung der Lebensgrundlagen durchaus nicht gleichgültig. Aber die gesellschaftlichen Verlierer seien es leid, „von privilegierten Zeitgenossen für ihren Lebensstil – ihre Diesel-Autos, ihre Ölheizung oder ihr Aldi-Schnitzel – moralisch deklassiert zu werden.“ Denn wirtschaftlich und finanziell können sie es sich nicht leisten auszuwählen.

Vielleicht erklären Wagenknechts Ausführungen auch, warum Wissenschaftskommunikation und -journalismus immer nur diejenigen erreicht, die es eh schon wissen. Denn mir scheint, dass diese Arten der Vermittlung die Perspektive sozialer Wirklichkeiten außen vor lassen.

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus, 345 Seiten, 24,95 EUR (eBook 22,99 EUR). https://www.bic-media.com/mobile/mobileWidget-jqm1.4.html?isbn=9783593513904

Redigiert und geändert: 2021-08-27

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